Im Deutsch-Baltischen Jahrbuch 63 der Carl-Schirren-Gesellschaft durfte ich 2015 einen Sammelband mit feuilletonistischen Texten von Sigismund von Radecki besprechen:
Auf 270 Seiten hat der Herausgeber Feuilletons eines „großen Autors der kleinen Form“ versammelt. Auch wenn Sigismund von Radecki heute als „in Vergessenheit geraten“ bezeichnet werden kann, erschließt sich aus der Lektüre der vor allem zwischen 1928 und 1938 entstandenen Texte schnell, warum er als Autor von seinen Zeitgenossen so geschätzt und verehrt wurde. Unverkennbar aus dem Expressionismus kommend, hatte er seine ganz eigene, hinreißende, mitreißende Form gefunden. Sich selbst beschrieb der passionierte Fotograf als „Spiegelreflex-Stereoskopkamera, Lichtstärke 1, mit Schlitzverschluß, […] eine Kamera […] die nur den einen Nachteil hat, daß ich sie jeden zweiten Tag rasieren muß. Die Bilder werden nach einem neuartigen Verfahren mit Tinte entwickelt und durch Druckerschwärze fixiert.“ Den selbstgesetzten Anspruch der Fotografie in Schriftform erfüllt er jedoch nicht. Denn er zaubert dem Leser nicht allein ein optisches Bild vor das innere Auge. Man liest seine Beschreibungen mit allen Sinnen. Man sieht die Straße, hört die Schulkinder, riecht den Asphalt und fühlt den Wind.
Als Beispiel sei hier „Atem der Länder“ gewählt, ein Text, der einer ganzen Abteilung des Buchs den Namen gibt: „Wenn alle Beschreibungen von Paris zu Rate gezogen, alle Photographiealben durchgeblättert sind, dann bleibt immer noch ein Etwas, ein Wichtiges, das nur jener erfährt, der seinen Fuß auf die Plattform der Gare du Nord setzt: der besondere Geruch von Paris. (Genau so wie die Wohnung meiner Tante Jettchen ein höchst eigenes Parfüm von Lakritze und Nähkörbchen besaß, hat auch jede alte Stadt, wo die Menschen jahrhundertelang dasselbe gegessen, gelebt und gedacht, ihren spezifischen Duft und Dunstkreis!) Der Duft von Paris! - er ist schwer zu beschreiben.“ Und doch fasst Radecki mit wenigen Worten plastisch „die animalische Witterung von Lutetia Parisorum“, das „größte, das immerwährende Erlebnis von Paris. Und das nicht nur für meinen Foxterrier, sondern für jede empfindende Nase“. Dann wendet er sich den Unverwechselbarkeiten der Düfte von Schweden, Baku, Zentralasien und „Internationaler Schlafwagen“ zu: Teer, Petroleum, Löß und „die gewisse Mischung aus Lederduft, frischer Wäsche, Plüsch und Lokomotive, welche sich seelisch sofort in Komfort und Abenteuer umsetzt.“
Radecki schreibt mit Witz und Wärme, mit etwas Spott und Sehnsucht, aber stets ohne Häme oder Pathos. Auch über sich selbst: „Mit siebzehn Jahren hatte er maturiert und wählte als Studium Bergbau; wahrscheinlich, weil er noch nie ein Bergwerk gesehen hatte.“
Ja, er plaudert, doch ohne belanglos, verzichtbar zu sein. Mit leichter Feder tänzelt er über die Tiefe, die seinen Texten innewohnt. Und verschweigt dabei auch nicht die Schattenseiten der Welt: Die Gefahren in einer Kohlegrube im Aachener Raum, ein versuchter Überfall im Nachtzug Charkow-Tiflis 1915 und die Malaria in der Hitze Zentralasiens: „Die Stadt lag angesichts der Pamir-Berge auf einer glühenden, schiefen Ebene und hatte zwei Hotels: das eine unten bei der Post, das andere oben. Oben war es gesund, unten bekam man Malaria von den Reisfeldern. Aber das band man den Fremden natürlich nicht auf die Nase – und so wählte ich das untere.“
Der Band beginnt zunächst mit „Die Lunge von Berlin“. Liebevoll schwärmt er vom Tiergarten in der Abenddämmerung, seiner Straße, seinem kleinen Zimmer. Das Leben des modernen Großstädters zwischen Schaufenster und Wochenende beschreibt er fast wie eine mit spitzer Feder geschaffene Zeichnung „Ein junger Mann aus der Menge, mit eingehängter Braut und aufgesetztem Strohhut (beides sichtlich neu angeschafft)“ und bilanziert den Urlaub des Vorjahrs lapidar: „Schaurig rasselte die Regenrinne, das Meer ließ alle Tropfen springen, und das ganze Salzkammergut ward eine einzige meteorologische Bedürfnisanstalt mit der Aufschrift »Für Wolken«. Der Rest war Skat.“ Im zweiten Abschnitt „Mein Pferd Pudding“ versammelt er Erinnerungen. Von der Kindheit. Beispielsweise, wie er mit elf Jahren im Salon völlig in seiner Lektüre versunken war, bis er in seinem Nacken etwas spürte: „Puddings Schnauze. Mein Bruder war nämlich schlankweg mit Pudding in den Salon geritten und faßte nun lachend nach dem Kronleuchter.“ Seine alte Begeisterung für den Segelsport und Boote kann man nachfühlen; den Skandal des „Internationalen Ringkampf-Championats“ in Petersburg schildert er als packende Kurzgeschichte. Wie er den Ausbruch der Februarrevolution erlebte und im Dezember 1917 – natürlich über Taps! - nach Dorpat reiste, um mit der Familie Weihnachten zu feiern, sind wieder von vertrauter Kürze und Präzision.
Rund um die Jahre des Ersten Weltkriegs kam Radecki weit im untergehenden Zarenreich herum, wovon man im dritten Abschnitt „Atem der Länder“ einen guten Eindruck erhält. Vor allem die Zeit in Zentralasien hatte ihn – nicht allein der Malaria wegen – tief beeindruckt: „Und nun ritten wir in das riesigste, menschenleerste, gottverlassenste Gebirge hinein, das je in einem Geographieatlas gestanden hat. Man konnte nur noch vertikal denken, es gab nur noch Wände und Wasser, und immer wieder Wände. Es rauschte betäubend. Angenehm kühl pfiff der Wind um die Ecken.“
Unter dem Motto „Wie kommt das zu dem?“ bündelt der Herausgeber schließlich Radeckis Erinnerungen an Karl Kraus, dem wir den Schriftsteller Sigismund von Radecki verdanken: „Wer Karl Kraus nicht in persönlichem Umgang gekannt hat, vermag sich höchstens aus den frühen Dialogen Platos einen Begriff davon zu machen, was menschliches Gespräch für ein Wunderding sein kann.“. Mehr schlaglichtartig sind die Aufzeichnungen zur Freundin Else Lasker-Schüler, denen ihr Gedicht auf den von ihr stets „von Radetschki“ Genannten zur Seite gestellt ist. Die kurzen „Puschkingeschichten“ und russische Redensarten und Sprichwörter sowie vier autobiographische Seiten „Einiges über Radecki“ schließen die Sammlung.
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